Eröffnungsrede des Ministerpräsidenten
Lieber Reinhard Schramm,
lieber, sehr geehrter Dr. Schuster,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
die sie alle schon begrüßt worden sind, fühlen Sie sich von mir noch einmal begrüßt.
Wir bewegen uns kurz vor dem freudigen Ereignis „30 Jahre Deutsche Einheit“, „70 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland“ (Westdeutschland) – weil der längere Teil ist eher der im einen Teil Deutschlands stattgefunden hat und in dem anderen Teil sich eher mit komplizierten Anfeindungen auch auseinandersetzen musste – und 100 Jahre „Vereinigte Staaten von Thüringen“. Ich werde darauf noch einmal zurückkommen. Das eingebettet, und Reinhard Schramm hat es erläutert, war eine Konsequenz aus der Dekade der Reformationsdekade. Und in der Reformationsdekade immer wieder die Reflektion, deswegen bin ich sehr dankbar, dass sowohl die Vertreter der katholischen Kirche als auch der evangelischen Kirche heute mit uns das Themenjahr eröffnen und dass Paten/Taufpaten sind von dem Themenjahr, denn im Reformationsgedanken haben wir uns als Staat davon leiten lassen, einerseits nicht einseitig auf ein Geschichtsbild von Martin Luther zu setzen, und andererseits die dunkle Seite, die mit Martin Luther einhergeht, immer wieder zum zentralen Punkt auch der Auseinandersetzung gemacht zu haben. Insoweit war es auch wichtig und richtig, dass Ilse Junkermann zur Eröffnung der Reformationsdekade, zur Neueröffnung des Luther-Hauses, Reinhard Schramm gebeten hat, dazu auch das Wort zu ergreifen, weil man kann zu Luther und seinem Antisemitismus nicht schweigen.
Deswegen bin ich froh und dankbar, wir haben es gerade im Film gesehen, dass Avital Ben-Chorin nicht nur Ehrenbürgerin von Eisenach wurde, sondern, um das ganze Luthergedenken, auch dieser Teil der dunklen Geschichte des „Entjudungsinstitut“ der evangelischen Kirche mit zum Gegenstand der Präsentation wurde. Wir reden also von einem Spannungsbogen, der immer wieder zurückgeführt wird auf das Schrecklichste was Jüdinnen und Juden jemals passieren konnte: der industrielle Massenmord an Jüdinnen und Juden, an unseren Nachbarn. Und der ist mit Erfurt verbunden, mit Topf & Söhne, und deswegen ist es so wichtig, dass wir diesen Teil niemals vergessen. Andererseits, und das war die Idee von Ilse Junkermann und Bischof Neymeyer und Reinhard Schramm, wenn wir immer nur jüdisches Leben über dem Holocaust definieren, sehen wir den Reichtum des jüdischen Lebens in unserem eigenen Leben nicht. So entstand die Idee von „900 Jahre Jüdisches Leben in Thüringen“.
Wir reden also Tacheles, wir sitzen manchmal im Schlamassel, dieses Jahr hat Thüringen da einiges dazu beigetragen, wir hatten manchmal auch den Eindruck, dass wir ziemlich mischugge sind und man kann auch sagen, als Ministerpräsident, unsere Finanzministerin zockt nicht mit Steuergeldern, und der Zoff in der Koalition wird mit harter Maloche überwunden. Dabei sind wir schon beim jüdischen Leben. Sonst reden wir nur über Anglizismen, jetzt könnte man auch einfach mal sehen, wie viel an unserem Alltag geprägt ist von jüdischer Sprache. Wir schmusen, wir schäkern, manchmal sind wir auch beschickert.
Das alles geht mir durch den Kopf, wenn ich an das jüdische Leben denke, dann sehe ich nämlich, dass unser Leben beeinflusst ist vom jüdischen Leben, welches von 33 bis 45 ausgelöscht werden sollte. Das körperliche Leben der Menschen, aber auch das geistige Leben, welches Erbe all der Menschen ist. Deswegen ist es so wichtig, dass wir immer wieder uns darauf besinnen und alle Quellen anzapfen, die das jüdische Leben und das Leben von uns Deutschen ausmacht und prägt.
Das Themenjahr beginnt im jüdischen Kalender kurz nach Rosch Haschana, also dem jüdischen Jahr 5781. Ich wünsche also allen jüdischen Freundinnen und Freunden ein gesundes neues Jahr. Shanah tovah!
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich habe darauf hingewiesen, dass wir den dunklen Teil von 33 bis 45 nicht auslassen. Das will ich aber nicht zum zentralen Punkt machen, weil ich einfach davon ausgehe, dass wir das ganze Jahr über die Verantwortung haben, diesen Teil unserer Verantwortung nicht aus dem Blick zu verlieren.
Wir wollen, dass das Gedenken einen festen Platz in der Erinnerungskultur behält. Und wir wollen nicht, dass eine 180°-Wende gemacht wird. Deswegen wollen wir uns jetzt dem jüdischen Leben, der ganzen Facette des jüdischen Lebens zuwenden. Jüdische Lebensfreude gehört dazu, ich werde es noch einmal erwähnen: allein 3 Festivals in Thüringen, welche sich mittlerweile dem Thema widmen. Nicht ganz banal, als so kleines Bundesland, was 3 lebendige Festivals dazu hat.
Wir haben 900 Jahre Siedlungsgeschichte in Thüringen, das ist 900 Jahre Leben, das ist 900 Jahre Entwicklungsgeschichte, das ist aber eben auch geprägt von Wissenschaft und Entwicklung.
Ich erwähnte 100 Jahre Vereinigte Staaten von Thüringen: Wenn ich auf die Verfassung schaue, Eduard Rosenthal, das ist der Staatsrechtler, der unsere Verfassung, die Wurzeln unserer Verfassung, geschrieben hat. Ohne Eduard Rosenthal – keine moderne Verfassung, auf die wir heute stolz sind. Emil Klein, Mediziner, lehrte er als Professor an der Universität Jena. Wilhelm Peters, Professor für Psychologie, der sich aktiv der Rassenpropaganda entgegenstellte. Innovatoren der Wirtschaft: Oscar Tietz, ich als Kaufmann weiß, Tietz ist verbunden mit dem Namen Hermann Tietz, Hertie, Oscar Tietz hat sein erstes Kaufhaus in Gera gehabt. Er hat modernen Einzelhandel erst ermöglicht. Die Moses und Löb Simson, jeder heute weiß, was Simson Schwalbe ist. Aber ohne Moses und Löb Simson – keine Simson Schwalbe. Die Erfurter wissen, wenn ich vom Gartenbauunternehmer Ernst Benary rede - ohne Ernst Benary kein entscheidender Beitrag zu dem, wie sich unsere Gartenstadt heute entwickelt hat. Oder kleine mittelständische Unternehmer, wie Bernd Prager aus Apolda, Harry Herrmannaus Nordhausen, Max Bernstein aus Ellrich und bedeutende Stifter und Mäzenen, der Schuhfabrikant Alfred Hess, seine Sammlung der expressionistischen Kunst war etwas Einmaliges. Felix Auerbach, ab 1889 Professor für theoretische Physik an der Universität Jena, Mäzen der Jenaer und der Weimarer Kunstszene in der Weimarer Republik, des Jenaer Kunstvereins und des Bauhauses. 1925 baute Walter Gropius für ihn in Jena eine Bauhaus-Villa: das Haus Auerbach. Der Wohlstand vieler Thüringer Städte, insbesondere zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, wäre ohne das Mitwirken der ansässigen jüdischen Kaufleute, Fabrikanten, Wissenschaftler und Künstler undenkbar.
Deswegen: Schauen Sie einfach mal in Ihre Stadt und prüfen Sie die Wurzeln, woher die schönen Gebäude sind und was wir für ein reiches Erbe haben. Das alles gehört für mich zusammen zu 900 Jahre Jüdisches Leben in Thüringen und deswegen freue ich mich. Wir sahen gerade das neue Entstehen der Tora und ich freue mich, dass die beiden Kirchen gemeinsam diese Tora und den Auftrag, sie zu schreiben vergeben haben und dass so unsere Kirchengemeinden und unsere jüdische Gemeinde dabei Pate ist, wie die neue Torarolle entsteht. Ich darf erwähnen, dass die alte Torarolle gerettet wurde, als die Synagoge zerstört wurde und von den Nazis das jüdische Leben ausgelöscht werden sollte, indem Sie in den Dom gerettet wurde, in dem sie dann untergebracht wurde. Dass jetzt beide Kirchen sagen: Wir schenken unserer jüdischen Gemeinde eine neue Tora und das ist etwas Einmaliges.
Was wird bleiben?
Ich will es nur kurz erwähnen: Zum Beispiel die wiederentstehende große Synagoge von Erfurt, sie wird als visuelle Form entstehen, sodass man sie auf seinem Handy in Zukunft sehen kann. Wenn man durch die Stadt geht und die entsprechende App herunterlädt. Wenn man dann durchschaut und sagt, unsere 3 Festivals werden uns das ganze Jahr über begleiten, dass wir einfach stolz darauf sind, dass wir die jüdisch-israelischen Kulturtage schon 28 Jahre haben, den Yiddish Summer seit fast 20 Jahren, ACHAVA jetzt im 6. Jahr. Das ist ein gelebter Hinweis dafür, wie viel jüdisch-israelische, moderne und alte Kultur zusammengehört, die wir zeigen können.
In diesem Sinne sage ich: Das ist alles töfte! Um es mal so auszudrücken, und ich sage, ich erkläre das Themenjahr „900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen“ für eröffnet!